Ich war 27

Und gerade seit wenigen Monaten politisch aktiv, als ich zum ersten Mal an der S-Bahnstation unweit von meiner Haustür beschimpft wurde. „Du linke Fotze mit deinen kurzen Haaren!“ rief einer der drei kurzgeschorenen Männer in schwarz-weißen Trainingsjacken. Sie hatten etwa mein Alter und ihrer hellen Pigmentierung nach hätten sie auch Polen oder Ukrainer sein können. Dabei murmelte der Sprecher das „Du“ und das „mit deinen kurzen Haaren“ nur und brach kurz darauf in Gelächter aus. Ich muss sagen, dass ich erst dachte, er hätte sich an seine Kameraden gewandt. Das Gelächter klang in meinen Ohren so, als wäre er etwas verlegen, weil er nicht wusste, ob er sich geirrt hatte. Immerhin reagierte ich nicht. Für zwei Sekunden konnte man an meinem Gesichtsausdruck Irritation ablesen. Ich ging in zehn Metern Entfernung an ihnen vorbei auf den langen, schmalen und schlecht beleuchteten Weg zu, der die S-Bahn Station von der Hauptstraße trennte. Die Arme auf dem Rücken verschränkt. In diesem Weg hatte ich bereits mit 16 regelmäßig meinen Haustürschlüssel zwischen Zeige- und Mittelfinger genommen und die Faust fest geballt. Ich wusste, dass sie mir nicht hinterher laufen würden. Dennoch atmete ich tief durch, als ich auf der Brücke rauskam. Es hatten sich mir gegenüber gerade drei Nazis geoutet.

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